19.05.2021

Mehr Würde bei KI: Human Friendly Automation Werte-Charta

Lars Schatilow leitet den Bereich Digital Change & Transformation bei IBM. Er ist außerdem Gründer der Initiative „Human Friendly Automation“,  an der neben IBM mehrere Unternehmen und das ISF München teilnehmen. Hier erklärt er, warum KI in Deutschland nur halbherzig und langsam implementiert werden kann, wenn dabei in erster Linie das Ziel, mehr Effizienz zu erreichen, verfolgt wird. Die Automatisierung werde nicht vorankommen, wenn die Würde der Mitarbeiter außer Acht gelassen wird, meint er. Das Werte-Manifest der „Human Friendly Automation“-Charta könne beim Wandel so etwas wie ein Grundgesetz für die Verantwortlichen sein.

 

Von Lars Schatilow

Das Grundgesetz bildet das Wertefundament der Bundesrepublik Deutschland. Es beinhaltet die Grundrechte auf die sich jede Bürgerin und jeder Bürger unserer Nation berufen kann. So ist beispielsweise die Würde des Menschen unantastbar. Und insbesondere dieses Grundrecht erhält in der von KI geprägten Automatisierungs-Ära besondere Aufmerksamkeit: Wir müssen mehr denn je darauf achten, dass die ökonomischen Vorteile aus technischem Fortschritt nicht zu Lasten der Würde der Menschen gehen. Wir brauchen eine verbindliche Werte-Basis für Unternehmen und Organisationen, die die Potenziale von KI heben wollen. Und die Frage nach den Werten darf nicht erst relevant werden, wenn KI bereits implementiert wurde und es darum geht, ob der Algorithmus jemanden ethnisch diskriminiert. Denn bereits der Prozess der Implementierung muss auf einem Werte-Fundament erfolgen.

Ganze Berufsgruppen stehen vor der Neuerfindung

Intelligente Automatisierung ist in der Lage, die Arbeit ganzer Berufsgruppen zu übernehmen. Schauen wir uns das Beispiel switchUp an. Unter Nutzung von KI werden durch das Startup basierend auf den Angaben des Nutzers alle aktuell verfügbaren Angebote von Stromanbietern durchsucht und das Beste vorgeschlagen. Damit nicht genug: Die KI kündigt sogar den laufenden Vertrag mit dem Stromanbieter und schließt den Vertrag mit den besseren Konditionen des neuen Versorgers automatisiert ab. Der Bot von switchUp überwacht sodann die Konditionen (“Tarifautomatisierung”), informiert den Nutzer falls es neue, bessere Angebote gibt und kann anschließend wiederum weitestgehend eigenständig die Vertragsabschlüsse übernehmen.

Das Beispiel macht deutlich, wie viele Arbeitsschritte sowohl auf Seiten des Kunden als auch auf Seiten der beteiligten Stromanbieter von cleveren Prozessautomatisierungs-Robotern übernommen wurden. Kunde und Mitarbeiter haben mehr Zeit, sich anderen Aufgaben zu zuwenden.

Die Implementierung von KI erfolgt noch nicht würdig genug

Doch während der Kunde die Vorteile genießt, ist die Lage für den betroffenen Mitarbeiter bislang meist weniger schön: Entweder wird sein Arbeitsplatz durch die Maschine gleich vollständig substituiert oder er wird befähigt, den Roboter in der nächsten Zeit zu trainieren, sodass dieser die Arbeitsschritte immer mehr eigenständig ausführen kann. So oder so: Der Mitarbeiter wird sich neu erfinden müssen.

Auf diese tiefgreifende Herausforderung werden die Betroffenen derzeit nicht ausreichend vorbereitet. Vorherrschend ist das Paradigma der Technologie Adaption, das in den vergangenen 30 Jahren seine Berechtigung hatte. Die Belegschaft wurde demnach befähigt, eine Informationstechnologie bedienen zu können, sodass diese einwandfrei funktioniert. Bei KI basierter Automatisierung geht es aber um persönliche Erneuerung: Mitarbeiter müssen frühzeitig wissen, wie sich die Technologie auf ihre Arbeit, Identität und Kompetenzen auswirkt. Sie müssen die Chance haben, persönliche Perspektiven zu erhalten und erschließen zu können.

Holistische Herangehensweise gefordert

Wenn man will, dass KI zur Chance für Mitarbeiter wird, dann benötigt man einen weitsichtigen Ansatz. Bei diesem werden ab Beginn der Überlegung für ein KI-Projekt auch Fragen thematisiert wie, “Wo werden freiwerdende Mitarbeiter künftig basierend auf ihren Stärken eingesetzt und wie kann man ihnen dabei helfen, sich für neue Aufgaben (intern oder extern) zu interessieren, sich wirksam zu befähigen und erfolgreich auf neue Stellen zu bewerben?” So einfach diese Fragen klingen, um so aufwendiger sind sie zu beantworten. Denn dafür ist auf strategischer Ebene der Organisation die interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Zusammenarbeitsmodell in der automatisierten Zukunft (Target Operating Model) sowie der Relevanz von Qualifizierung erforderlich. Bei dieser Arbeit wird u.a. sichtbar, welche Organisationseinheiten durch intelligente Automatisierung künftig reduziert werden oder wegfallen, wo neue Geschäftsfelder und damit Ressourcenbedarfe entstehen und wie die Qualifizierung gestaltet werden muss. Parallel dazu ist auf individueller oder Team-Ebene eine Analyse der Identifikation, Kompetenz und Lernkultur /-infrakstrultur erforderlich, um betroffenen Mitarbeitern neue, geeignete Einsatzfelder erschließbar zu machen.

Eine Human Friendly Automation Werte-Charta ist notwendig

Hand auf’s Herz. Die hier angeführten Fragen werden aktuell von kaum einem Verantwortlichen für KI-Projekte wahrnehmbar thematisiert. Es steht das Betriebsmodell des Roboters im Fokus und das Ziel, Effizienzen zu heben. Die Implementierung erfolgt losgelöst von der Frage nach der Würde des Mitarbeiters und ohne ein verbindliches Werte-Fundament.

Bei IBM habe ich daher im Jahr 2020 mit meinem Team einen Beratungsansatz entwickelt, den wir Human Friendly Automation nennen. Uns ist allerdings bewusst, dass der Ansatz allein keine Veränderung erzielen wird, wenn das Bewusstsein auf Kundenseite noch nicht ausreichend vorhanden ist. Wir sind daher zusätzlich einen Weg gegangen, um die Haltung der Verantwortlichen in den Fokus zu rücken.

Gemeinsam mit dem ISF München und Experten aus 12 großen Unternehmen sowie der öffentlichen Hand entwickeln wir die Human Friendly Automation Werte-Charta. Dieses “Manifest” soll eine Art “Grundgesetz” für die Verantwortlichen intelligenter Automatisierungsprojekte sein. Es beinhaltet Werte und Prinzipien, die eine nachhaltige und sozialverantwortliche Herangehensweise bei der Implementierung von KI ermöglichen.

Die Experten aus HR, Change Management, KI und Automation extrahierten die Werte aus einer Vielzahl von KI Implementierungs-Fallbeispielen. Im Anschluss wurden Wertepaare gebildet und dazugehörige Prinzipien in einem mehrstufigen Verfahren formuliert. Die Ergebnisse befinden sich aktuell in einem Review-Verfahren durch weitere Experten, u.a. des IT-Branchenverbandes BITKOM.

Unser Ziel

Mit der Human Friendly Automation Werte-Charta werden wir zur Skalierung KI basierter Automatisierung einen wertvollen Beitrag leisten. Wir merken, dass Organisationen noch immer zögerlich sind und Bot-Projekte nicht großflächig und integriert zur Anwendung kommen. Das ist normal: Fehlt die Wertebasis, dominiert Unsicherheit – kleine Schritte sind die Folge.

In dem wir mit der Charta die zentrale Frage: “Was passiert mit den Menschen”, zum Standard jedes KI-Projektes machen, kann Unsicherheit genommen und Skalierung ermöglicht werden.

Wir wollen alle die Vorteile intelligenter Technik nutzen können. Wir dürfen sie jedoch nicht zum Nachteil für Menschen werden lassen. Das ist das verbindende Ziel der Köpfe hinter der Human Friendly Automation Werte-Charta.

 

Schatilow, Lars (2021): Mehr Würde bei KI: Human Friendly Automation Werte-Charta. Online verfügbar unter https://www.humain-worklab.de/hfa-werte-charta [19.05.2021]

 

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